Kapitel 11 – Die Brücke zum Licht
- Ferdinando Polinaro
- 18. Apr.
- 2 Min. Lesezeit
Die Dunkelheit ist kein Feind des Lichts, sondern sein ewiger Begleiter. Wie zwei Tänzer, die in einem kosmischen Gleichgewicht miteinander verwoben sind, existieren sie nur durch die Gegenwart des anderen. Diese Wahrheit war mir immer bewusst, doch an jenem Tag sollte ich sie auf einer tieferen Ebene erfahren.
Eines Abends, als der Himmel in Purpur und Gold getaucht war, klopfte ein Wanderer an meine Tür. Sein Antlitz war gezeichnet von den Stürmen des Lebens, seine Augen wirkten wie alte Spiegel, die von tiefem Schmerz erzählten. Er nannte sich Elias, und seine Stimme war wie der Wind, leise und doch von unermesslicher Tiefe: „Ich habe mich verirrt. Ich suche den Weg zurück zum Licht.“
Ich ließ ihn eintreten, spürte das Gewicht der Schatten, die ihn begleiteten. Wir setzten uns im Kreis der Stille, und während die Kerzen flackerten, begann Elias zu sprechen. Seine Worte waren Wellen eines stürmischen Meeres, das gegen die Küste seiner Seele brandete. Er sprach von verlorener Liebe, von Schuld, die ihn in Fesseln hielt, von der Leere, die in seinem Inneren widerhallte.
„Ich bin in einem Tunnel gefangen, und kein Licht weist mir den Weg“, flüsterte er.
Ich lauschte seiner Qual und sprach dann leise: „Vielleicht ist es nicht der Ausgang, den du suchst. Vielleicht ist es an der Zeit, die Dunkelheit zu durchschreiten, um ihr Geheimnis zu erkennen.“
Ein Funke glomm in seinen Augen, ein erster Schimmer der Erkenntnis. Unsere Begegnungen wurden zu einer Pilgerreise durch seine Erinnerungen, zu einer Expedition in die tiefsten Kammern seines Herzens. Elias erzählte von seiner Kindheit, von unbeschwerten Tagen, von Träumen, die er einst wagte zu träumen. Mit jedem Wort, das er sprach, schien ein weiterer Stein auf seiner Brücke zum Licht gesetzt zu werden.
Eines Tages legte ich ein altes Buch in seine Hände. „Lies es nicht mit den Augen“, sagte ich. „Lies es mit deiner Seele.“
Wochen vergingen. Ich wusste nicht, ob er den Weg der Worte beschritt. Doch dann, an einem Tag, an dem der Himmel weinte, trat er erneut zu mir. Das Buch lag in seinen Händen, und in seinen Augen glühte ein neues Feuer.
„Ich habe verstanden“, sprach er mit fester Stimme. „Das Licht war nie fern. Es hat immer in mir geleuchtet.“
Ein Wandel vollzog sich in Elias. Schritt für Schritt betrat er das Leben mit neuen Augen. Er erkannte, dass selbst die dunkelsten Nächte den Weg zu den strahlendsten Sonnenaufgängen ebnen. Er begann, in jedem Moment die göttliche Gegenwart zu erkennen und seine Vergangenheit nicht als Last, sondern als Lehrer zu betrachten.
Als er sich eines Tages verabschiedete, nahm er meine Hand. „Danke, dass du mich an meine Brücke erinnert hast.“
Ich lächelte sanft. „Die Brücke war immer da. Du hast nur vergessen, dass du sie selbst erbaut hast.“
Während ich ihn gehen sah, umhüllte mich ein tiefer Frieden. Ich wusste, dass wir alle Reisende sind, Suchende auf dem Pfad des Erwachens. Und dass die Brücken, die wir bauen, nicht nur für uns selbst sind, sondern für all jene, die bereit sind, das Licht in sich selbst zu erkennen.
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